Klappbildkarten und PopUp-Buch

Ein Gepräch mit Myriam H. über eine Bilderbuch-Verwandlung und über Paper-engineering

Warum aus dem Geschenkbuch für Erwachsene "Das Mündel des Herrn Haupt" das PopUp-Buch "Kohrdula und Sigmund" wurde und was es sonst noch Neues gibt

Myriam:
Der Kleinverlag Beim Storchennest wird seit zweieinhalb Jahren um eine originelle Geschenkbuch-Serie erweitert, die derzeit 7 Leporello-Bilderbücher umfasst. Die Bücher werden zur Gänze von der Künstlerin Astrid Sänger entworfen und hergestellt. Nun hat dieses Papier-Handwerk zu einer neuen Herausforderung geführt. Erzähle uns, Astrid, was ist denn Paper engineering überhaupt?

Astrid:
Durch Faltungen und Schnitte kann man aus Papier dreidimensionale Objekte machen. Zumeist hat das mit Exaktheit, Geometrie, Geduld und technischem Verständnis zu tun, sodass ich dachte, es wäre nichts für mich. Ich war aber als Kind fasziniert von einem phantasievollen, gemalten Klappbilderbuch des Künstlers Vojtěch Kubašta und ich fand nun hervorragende Internet-Tutorials über dieses Thema. Also wagte ich mich an die Sache heran, zwischen flachen Buchseiten räumliche Aufbauten zu verstecken. Die Leporello-Faltung hatte mich auf die Idee einer weiteren Dimension gebracht.

Myriam:
Ja, im Märchenbuch „Der himmelhohe Baum“ nutzt Du das Leporello für dreiseitige Bilder, was mit einem am Rücken gebundenen Buch nicht möglich ist. Warum aber hast Du für das Umarbeiten auf ein Klappbilderbuch „Das Mündel des Herrn Haupt“ gewählt?

Astrid:
Meine Bücher wurden oft mit Kinderbüchern verwechselt bzw. gleichgesetzt. Manche Titel eignen sich durchaus für Kinder, aber von „Das Mündel des Herrn Haupt“ blieben mir viele übrig, weil es diese Kunden irritiert hat. Die Überlegung war, Ressourcen zu sparen und zuerst einmal mit Vorhandenem zu experimentieren.

Redakteurin Myriam H.
spricht mit
Astrid Sänger
Juni 2023

Myriam:
Ich wiederhole noch einmal den Inhalt der Geschichte: unter Verwendung von 26 Worten für Körperteile ist eine erotische Geschichte entstanden, in der nicht ganz klar wird, ob es sich um eine Verführung, um Nötigung oder einvernehmliche sexuelle Annäherung handelt. Wie ist das zu verstehen, Astrid?

Astrid:
Weil ich vor allem gern Illustrationen vom menschlichen Körper machen wollte und besonders der Akt ein spannendes Sujet ist, habe ich den spontan entstandenen Text wenig reflektiert. Für mich stand gleich fest, dass die junge Frau, ob absichtlich oder nicht, mit ihrem Sex-Appeal Macht über den Mann hat. Er macht offenbar durchwegs nichts richtig, weder mit vorsichtiger Annäherung noch mit einem teuren Geschenk oder einer handfesten Bestrafung für ihr launisches Benehmen, doch die letzte Seite zeigt trotzdem ein „Happy End“.

Myriam:
Mit einem Streich greifst Du hier gesellschaftlich aktuelle, vielleicht auch zeitlose Themen auf: über die Frage nach Mißbrauch gegenüber Schutzbefohlenen, über das heute frühreife Verhalten Jugendlicher, “Me Too“, und Nacktheit überhaupt. Dabei war diese ab dem Ende des 19. Jahrhunderts, als die Damen ihr Korsett ablegten, und später in der Hippy-Bewegung und FKK-Kultur ein Teil der Emanzipation.

Astrid:
Ich glaube, dass heimliche, erotische Vorstellungen überhaupt erst entstehen, weil in dem Fall nur die Frau, nicht der Mann nackt ist. Im Buch zeige ich im Hintergrund Skizzen von Nackten nach berühmten Werken von Michelangelo, Schiele, Klimt und Picasso. Die Haltung der zornigen Frau mit dem Sessel erinnert an den Diskuswerfer des griechischen Bildhauers Myron. Auch gleich zu Beginn steht im Proportionenkreis von Leonardo da Vinci eine junge Frau statt dem männlichen Vitruvianischen Menschen.

Myriam:
In der neuen Version „Kohrdula und Sigmund“ kann man in diesem Kreis die Worte für die Körperteile auf einer Scheibe drehen. Eine Doppelseite und auch das altmodische und Abhängigkeit suggerierende Wort „Mündel“ hast Du weggelassen. Dafür gibt es ein paar Bilder mehr, die im PopUp-Buch wie Geheimfächer aufgeklappt werden können. 

Astrid:
Ja, tatsächlich musste ich viele Details und alle Buchseiten für die räumliche Version nocheinmal umgestalten und ausdrucken. Es war eine spannende Arbeit, bei der ich auch für weitere Projekte dieser Art viel gelernt habe.

Verlag Beim Storchennest

Myriam:
Meinst Du die Geschenkkarten mit Klappbildern, von denen Du mir zu Ostern erzählt hast?

Astrid:
Ja, auch an den Karten arbeite ich einige Zeit, bis sie ansprechend aussehen und richtig beweglich oder räumlich sind. Themen sind festliche Anlässe und meine Schüttelreime.
Zwischendurch habe ich sechs dreieckige Zimmer mit räumlicher Tiefenwirkung gebaut, die zu einem Kreis zusammengestellt werden können. Sie dienten als Kulisse für ein Trickfilmvideo.
Mein nächstes großes PopUp-Projekt, in der nicht nur Räumlichkeit, sondern auch Beweglichkeit eine Rolle spielen soll, wird das Buch „Katja“, für das es ebenfalls einen Spaßtext nach Art von Kohrdula und Sigmund gibt. Es handelt von einer Philosophiestudentin und vielen Tieren.

Myriam:
Da freue ich mich schon jetzt darauf! Danke für das Gespräch!

Kohrdula und Sigmund bzw. Das Mündel des Herrn Haupt:
Im Vordergrund sieht man ein narzistisches Mädchen nackt posieren. Sie schminkt sich neben dem bekleideten Mitbewohner. Als der Mann sich ihr sachte nähert, weist sie ihn mit übertriebener Dramatik zurück. Er überlegt nun, ob er ihr ein versöhnliches Geschenk machen (oder sie doch mit Schlägen bestrafen) sollte, und zieht in Erwägung, sie mit sanfter Gewalt zum Liebesspiel zu überreden. Es ist zu sehen, dass sie sich gerne erobern ließe, siegessicher, das subtile Kräftemessen zu gewinnen. Im letzten Bild herrscht innige Zweisamkeit unter der Bettdecke.

Aus der erotischen Miniatur aus 26 Körperteilen auf 28 bebilderten Seiten wird ohne anfängliche Absicht ein großes Thema. Das aufreizende Verhalten des jungen Mädchens, das Gewissenskonflikte im Erwachsenen auslöst, gesellschaftlich bedingte Tabus wie Nacktheit, Altersunterschied der Sexpartner, Gewalt/Wut, Liebe und Begehren, können da reflektiert werden. Vor allem aber soll sich der Leser an den (beweglichen) Bildern erfreuen und über die sprachliche Akrobatik amüsieren.